Angelehnt an den Titel von Saids 1999 veröffentlichten Erinnerungen – auf Deutsch erschienen als Am falschen Ort – widmen sich die Edward W. Said Days in dieser Saison ästhetischen und politischen Gesichtspunkten von Heimat, Identität und Exil. In Gesprächen und musikalischen Beiträgen, in literarischen Lesungen und Podiumsdiskussionen stehen geopolitische und persönliche Aspekte von Saids Biographie im Fokus und bilden den Ausgangspunkt für die Untersuchung von innerer und äußerer Vertreibung und Exil sowie von Orten des „Heimatfindens“ und der „Rückkehr“. Dabei geht es auch um den Versuch einer Neubewertung des Zustands, am „richtigen“ oder am „falschen“ Ort zu sein. Teil des Programm ist außerdem ein Konzert des Orchesters der Barenboim-Said Akademie unter der Leitung von Daniel Barenboim.
Details zum Programm ab 1. Dezember 2024.
In Zusammenarbeit mit Wissenschaftskolleg zu Berlin/Institute for Advanced Study
Anlässlich des 20. Todestags des palästinensischen Literaturwissenschaftlers eröffnen die seit 2018 stattfindenden Edward W. Said Days die neue Spielzeit im Pierre Boulez Saal. Im Mittelpunkt stehen Vorträge des Philosophen Dag Nikolaus Hasse und des Musikwissenschaftlers Kofi Agawu sowie zwei Diskussionspanels, die sich mit Themen am Schnittpunkt von Musik und Postkolonialismus befassen – beides zentrale Aspekte im Schaffen Saids. Außerdem ist das von ihm mitbegründete West-Eastern Divan Orchestra unter der Leitung von Daniel Barenboim in zwei Konzerten zu erleben.
Keynote von Prof. Dr. Dag Nikolaus Hasse
© Peter Adamik
Prof. Dr. Dag Nikolaus Hasse & Mariam Said
© Peter Adamik
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Mitglieder des West-Eastern Divan Orchestra
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West-Eastern Divan Orchestra
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Mitglieder des West-Eastern Divan Orchestra
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Prof. Dr. James Helgeson
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Keynote von Dr. Kofi Agawu
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Dr. Makoto Harris Takao
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Dr. Clara Wenz
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Dr. Scheherezade Hassan
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Dr. Martin Scherzinger
© Peter Adamik
Mit dieser neuen Ausgabe der seit 2018 alljährlich stattfindenden Edward W. Said Days eröffnet der Pierre Boulez Saal die Saison 2023/24. Wir feiern damit den wichtigsten intellektuellen Impulsgeber der Barenboim-Said Akademie, dessen Schriften über Kultur und Imperialismus – insbesondere im Hinblick auf Literatur, Musik und Philosophie – den internationalen Diskurs seit zwei Generationen maßgeblich bestimmen. Das diesjährige Kolloquium findet anlässlich von Saids 20. Todestag statt. Im Gedenken an ihn haben wir Wissenschaftler:innen aus den Bereichen der Musikwissenschaft und Philosophie eingeladen. Die Abende sind Vorträgen gewidmet sowie zwei Konzerten mit dem West-Eastern Divan Orchestra, das unter der Leitung von Daniel Barenboim, dem wichtigsten musikalischen Impulsgeber der Akademie, ein Programm mit Mozart-Symphonien spielt.
Die Barenboim-Said Akademie entstand aus der engen Freundschaft zwischen Edward Said und Daniel Barenboim heraus, deren Traum von einem Konservatorium, das musikalische Ausbildung mit einem fundierten geisteswissenschaftlichen Unterricht in Philosophie und anderen Fächern verbindet, durch die Gründung der Akademie Wirklichkeit wurde. Diese Freundschaft, die den Grundstein für unsere tägliche Arbeit legte, wurde nicht zuletzt durch Edward Saids musikalische Interessen gespeist. Er war in den letzten Jahrzehnten des 20. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur eine prominente kritische Stimme, sondern auch ein ausgezeichneter, an der Juilliard School ausgebildeter Pianist und ein versierter Musikkritiker. Mit „Musik“ ist hier allerdings die Musik einer bestimmten Tradition gemeint: das, was wir, mit allen dazugehörigen Vorbehalten, als „westliche“ klassische Musik bezeichnen. Tatsächlich wies Said nicht ohne Ironie darauf hin, dass seine musikalischen Interessen sich nicht mit denen seiner Kinder deckten (und dass Unterhaltungsmusik für ihn ein Buch mit sieben Siegeln blieb). Auch sein Verhältnis zur Musik der arabischsprachigen Welt – die für seine kritischen und politischen Anliegen ansonsten so zentral war – gestaltete sich schwierig, wie er selbst zugab.
Heute, da „Identität“ zu einer unvermeidlichen kritischen Kategorie geworden ist, besteht vielleicht mehr denn je die Gefahr, sich auf Saids Musikgeschmack zu fokussieren. Die Studierenden unserer Akademie sind zumeist nicht nur mit dem musikalischen Handwerkszeug der „westlichen“ Tradition vertraut, sondern auch mit dem ihrer Heimatregionen. Viele, wenn auch nicht alle von ihnen, vereinen in ihrer künstlerischen Arbeit unterschiedliche musikalische Leidenschaften. Dabei können musikalische Vorlieben zwar durchaus politisch sein, bleiben aber stets freiwillig; sie sind keine Verpflichtungen und ergeben sich nicht notwendig aus vermuteten oder womöglich nur imaginierten Identitäten.
Uns geht es nicht darum, Saids Denken dafür verantwortlich zu machen, dass wir uns mit bestimmten Arten von Musik mehr und mit anderen weniger beschäftigen. Leitgedanke dieser Ausgabe der Edward W. Said Days an der Barenboim-Said Akademie ist vielmehr, den enormen Reichtum seines kritischen Werks, insbesondere seine Überlegungen zum Kolonialismus und Postkolonialismus, an einer Reihe kultureller Phänomene zu erproben, die weitgehend jenseits seines Wirkungsbereichs liegen. Die diesjährigen Edward W. Said Days konzentrieren sich daher auf die Musik außerhalb des „Westens“ und untersuchen, wie der Kolonialismus und die Nachwirkungen der kolonialen Begegnungen den „westlichen“ Blick auf musikalische Praktiken aus anderen Teilen der Welt geprägt haben.
Prof. Dr. Regula Rapp
Prof. Dr. James S. Helgeson
Edward hatte eine besondere und leidenschaftliche Verbindung zur Musik.
Den Begriff Kontrapunkt verwendete mein Mann häufig. Er war bestens mit ihm vertraut, kannte seine Flexibilität, seine Nuancen und seinen Ursprung sehr gut. Ich möchte mich hier auf die Bedeutung dieses Begriffes konzentrieren. In der Musik bedeutet Kontrapunkt die Kombination von zwei oder mehr Stimmen, die harmonisch zusammenhängen, melodisch und rhythmisch jedoch voneinander unabhängig sind.
Edward war der Erste, der erkannte, wie sich dieser Begriff auch außerhalb der Musik verwenden lässt. In seinem Buch Kultur und Imperialismus schlug er vor, nicht „eindeutig, sondern kontrapunktisch“ zu lesen, sich gleichzeitig des Inhalts eines literarischen Werks und dessen historischen Kontextes bewusst zu sein. Indem er den Begriff Kontrapunkt benutzte, hob Edward außerdem hervor, dass das Ungesagte in einem Werk ebenso wichtig sein kann wie das Gesagte.
Der Begriff diente ihm jedoch auch dazu, das Leben eines Exilanten zu beschreiben: „Den meisten Menschen ist nur eine Kultur gegenwärtig, ein Umfeld, eine Heimat; für Menschen im Exil sind es dagegen mindestens zwei, und diese Pluralität der Blickwinkel schafft ein Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit verschiedener Dimensionen, ein Bewusstsein, das – um einen Begriff aus der Musik zu gebrauchen – kontrapunktisch ist.“
Die neue Bedeutung, die Edward dem Gedanken des Kontrapunkts zugeschrieben hat, macht deutlich, dass es dabei tatsächlich um die Begegnung mit dem Anderen geht. Wenn eine Klarinettenlinie schroff in die Höhe schießt und auf den warmen, geschmeidigen Klang eines Cellos trifft, um sich mit ihm zu verbinden, entsteht in der Musik das, was Edward so faszinierte: die Begegnung, die Verschmelzung, das Zusammenspiel von allem. In Musik ohne Grenzen schreibt er: „Der Kontrapunkt ist absolute Klangordnung, vollständige Einteilung der Zeit, akribische Untergliederung des musikalischen Raums und höchste geistige Anspannung.“
Kontrapunkt ist nicht bloß eine stumpfe musikalische Übung: Edward beschrieb seine musikalischen Kindheitserfahrungen als „einerseits unbefriedigende, langweilige Beschäftigung mit Klavierüben […] und andererseits enorm reiche und willkürlich gestaltete Welt wunderbarer Klänge und Orte.“ Kontrapunkt gibt uns die Gelegenheit zu interagieren, trennende Mauern und Grenzen einzureißen, zu fragen, zu antworten und zuzuhören.
Ich glaube, die Barenboim-Said Akademie in Berlin ist dieses Haus des Kontrapunkts, in dem die neuen Bedeutungen des Wortes aktiv vermittelt werden können, in dem die Studierenden die Möglichkeit haben, in der Kammermusik Kontrapunkt zu spielen, im Philosophieunterricht über Kontrapunkt zu sprechen und in ihren persönlichen Begegnungen Kontrapunkt zu leben.
Mariam C. Said
Edward Said und ich teilten die feste Überzeugung, dass Musik ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens sein sollte und großen Anteil daran hat, uns als Menschen zu beeinflussen und zu formen. Mit diesem gemeinschaftlichen Credo begannen wir nach Jahren der Freundschaft das Abenteuer, aus dem das West-Eastern Divan Orchestra entstand. Wie viele von Ihnen wissen, haben wir das Orchester 1999 gemeinsam gegründet, und es macht mich stolz zu sehen, wie es sich zu einem weltbekannten Ensemble entwickelt hat. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir das akademische Jahr der Barenboim-Said Akademie und die Spielzeit im Pierre Boulez Saal mit einer Hommage an Edward Said eröffnen, die anlässlich seines 20. Todestags die von ihm so geliebte Musik mit neuen Perspektiven auf einige der Ideen und Gedanken verbindet, die für seine Arbeit von zentraler Bedeutung waren.
Tatsächlich ist es vielleicht die Breite seiner Interessen, an die man sich im Zusammenhang mit Edward Said als Erstes erinnert. Er war nicht nur in der Musik, der Literatur, der Philosophie und der Politik zu Hause, er zählte auch zu den besonderen Menschen, die die Verbindungen und Parallelen zwischen unterschiedlichen Disziplinen erkennen, weil er über ein außergewöhnliches Verständnis für den menschlichen Geist verfügte und ihm klar war, dass Parallelen und Paradoxe keine Widersprüche sind. Dieser wissbegierige Verstand erlaubte ihm privilegierte Einblicke ins Unterbewusstsein von Menschen, von Schöpfern. Dazu kommt, dass er einen unbändigen Mut hatte, sich mitzuteilen, was ihm nicht nur viel Bewunderung, sondern auch die Eifersucht und Feindschaft vieler Menschen eingetragen hat.
Sein bahnbrechendes Buch Orientalismus, das 1978 erschien, hat unseren Blick auf die Welt verändert und wurde zum Wegbereiter für das Forschungsgebiet des Postkolonialismus, eines der beiden Themen, die sich durch die Vorträge und Diskussionen dieses Symposiums ziehen.
Das andere ist selbstverständlich die Musik. Edward Said sah in ihr nicht nur eine Kombination von Klängen, ihm war vielmehr bewusst, dass jedes musikalische Meisterwerk gleichsam ein Abbild der Welt ist. Die Schwierigkeit liegt darin, dass dieses Abbild sich mit Worten nicht beschreiben lässt – denn wäre das möglich, bedürfte es der Musik nicht.
Ich kann mir keinen besseren Weg vorstellen, das Andenken Edward Saids zu ehren, als seine Arbeit lebendig zu halten und den Diskurs fortzusetzen, dem er sich mit so viel Leidenschaft gewidmet hat.
Daniel Barenboim
Den ganzen Artikel von Qantara finden Sie hier.
Den ganzen Artikel von der NMZ finden Sie hier.
Kurator James Helgeson zum Programm der Edward W. Said Days 2023.
Erfahren Sie mehr über das Orchester und andere Projekte, die seit seiner Gründung entstanden sind, darunter die Barenboim-Said Akademie.