Widmann Labyrinth IV
Boulez Ensemble, Daniel Barenboim & Sarah Aristidou
Musik / Konzert Ensemble & Orchester / Vokal 1Seit Jahren schon erfindet Jörg Widmann musikalische Labyrinthe, die kompositorisch zu einem seiner „großen Lebensthemen“ geworden sind: „Werkgruppen sind bei mir nie von langer Hand als solche geplant“, sagt er. „Sie ergeben sich. Man schreibt ein Stück und spürt instinktiv, dass man mit einem Thema noch nicht fertig ist.“ Labyrinth IV für Sopran und Ensemble entstand als Auftragswerk der Daniel Barenboim Stiftung und wurde im Juni 2019 im Pierre Boulez Saal uraufgeführt. Widmann konzipierte das Werk spezifisch „für diesen Raum mit seinen labyrinthischen Möglichkeiten. Dass die Sängerin im gesamten Raum herumirren kann, das hat das Stück erst ermöglicht.“ Es erzählt die Geschichte des Minotaurus, jenes mythischen Wesens mit menschlichem Körper und Stierkopf, der auf der Insel Kreta in einem Labyrinth hauste, aus der Perspektive seiner Halbschwester Ariadne. Sie reicht hier nicht den Faden, sondern erhebt selbst den Dolch – und beendet die Geschichte mit den Worten „Ich bin dein Labyrinth…“
Jörg Widmann (*1973)
Labyrinth IV für Sopran und Ensemble (2019)
Nach Texten von Euripides, Clemens Brentano, Friedrich Nietzsche und Heinrich Heine
Daniel Barenboim, Musikalische Leitung
Sarah Aristidou, Sopran
Boulez Ensemble
Wolfram Brandl, Lifan Zhu, Violine
Yulia Deyneka, Viola
Alexander Kovalev, Cello
Christoph Anacker, Kontrabass
Anne Romeis, Flöte, Piccoloflöte
Hartmut Schuldt, Klarinette, Bassklarinette
Robert Drager, Fagott, Kontrafagott
Bassam Mussad, Christian Batzdorf, Trompete
Jurgen Oswald, Posaune, Bassposaune
Thomas Guggeis, Klavier
Teodoro Anzellotti, Akkordeon
Martin Barth, Dominic Oelze, Schlagzeug
- 00:00 - Labyrinth IV
- 01:18 - Die Zusammenarbeit mit Sarah Aristidou und Daniel Barenboim
- 04:06 - Ein extremes Werk für das Boulez Ensemble
- 05:11 - Der Kompositionsprozess: Ariadne im Fokus
- 09:00 - Euripides, Brentano, Heine und Nietzsche
- 11:44 - Ariadne und der Minotaurus
Der Zustand der Welt lässt sich am besten im Gleichnis des Labyrinths fassen, weiß Jörg Widmann, und darin kennt er sich aus. Denn der Münchner Komponist, Klarinettist und Dirigent erfindet seit Jahren Labyrinthe, gerade ist er beim vierten angelangt. Schon das erste war ausdrücklich als „Raum-Stück“ konzipiert, mit 48 Saiteninstrumenten, links und rechts durch eine doppelte Klangmauer begrenzt und von verwegenen, verwinkelten, verqueren Wegen durchzogen, mitten durch die Vielzahl der Streicher. Im Zweiten Labyrinth von 2006 verteilte Widmann fünf Orchester gruppen im Saal, auf der Hauptbühne, auf einem rückwärtigen Podium und rings herum um das umzingelte Publikum. 2014 schloss sich das Dritte Labyrinth an, eine große Gesangsszene. „Verwandt mit ihm ist das vierte dadurch“, erklärt Jörg Widmann, „dass auch hier eine Sopranistin mitwirkt, es ist also ein Weiterdenken des dritten, zumal auch der Nietzsche-Text, Fragmente, einzelne Zeilen, mitunter nur ein Wort aus den Dionysos-Dithyramben, in beiden Verwendung findet.“ Aber etwas ist neu und ganz anders: „Die klare, konkrete Handlungsstruktur – das gab es in den bisherigen Labyrinthen nicht.“ Am Beginn steht der im wahrsten Sinne des Wortes „ungeheuerliche“ Zeugungsakt, wenn der Kretische Stier die Königin Pasiphaë begattet und der Schlaf der Vernunft Ungeheuer gebiert, den Minotaurus, halb Mensch, halb Tier. Seine künftige Schwester, die Königstochter Ariadne, bricht aus in Entsetzen – mit einem altgriechischen Textfragment des Euripides: „Warum nur, oh unglückliche Mutter, hast Du mich geboren?“
Nach dieser schockierenden „Urszene“ wendet sich die Handlung dem zärtlichen „Kinderlied für ein Ungeheuer“ zu, auf Verse des deutschen Romantikers Clemens Brentano: „Durch die Wüste zieht das Kind. / Nur der Faden meiner Hände / Führt es durch das Labyrinth.“ Ariadne verleitet ihren monströsen Bruder in die Irre, auf die „verschlungenen Pfade“, hinein in die wüste, labyrinthische Welt.
Ins Zentrum rücken nun die genannten Fragmente aus Nietzsches Dionysos-Dithyramben, nur dass sie als Rollengedichte umgewidmet werden, nicht mehr an Dionysos gerichtet erscheinen, sondern als Anrede der Ariadne an das Ungeheuer, den Minotaurus. „Wir sind mitten hinein in eine Jagdszene geraten“, erläutert Widmann den dramatischen Augenblick, „die Kampfhandlungen beginnen. Theseus selbst spielt da überhaupt keine Rolle, es geht um den Kampf zwischen Ariadne und dem Minotaurus. Nach kurzer Zeit bricht das wieder ab, und es ist, wie wenn man in einem Labyrinth in den Himmel schaut, nach oben, ins Freie.“ Weshalb er an dieser Stelle ein Gedicht von Heinrich Heine einfügt: „Traurig schau ich in die Höh, / Wo viel tausend Sterne nicken – / Aber meinen eignen Stern / Kann ich nirgendwo erblicken.“
Und noch einmal schlägt das Drama um, zurück zu den „Kampfhandlungen“ und zu Nietzsches Dithyramben. Ariadne und der Minotaurus: „Sie stößt ihn ab und zieht ihn wieder an sich – es gibt also auch eine Faszination zwischen den beiden, es ist nicht nur das schiere Entsetzen wie bei der Zeugung, sondern eine Mischung aus Abscheu und Faszination, beides.“ Widmanns Labyrinth IV tendiert durchaus zur Szene und wird auch als „Raum-Stück“ mit verschiedenen Lichtstationen, buchstäblich mit Rückblenden, mit Wegen und Bewegungen der Sängerin durch das vorstellbare Labyrinth des Saales hör- und sichtbar gemacht. „Und es gibt eine unglaubliche Wendung“, verrät Widmann. „Bei Nietzsche heißt es: ‚Und meine letzte Herzensflamme / Dir glüht sie auf‘. In diesem Moment erklingt abermals die Musik vom Zeugungsakt, die Kampfhandlung kommt noch einmal in Erinnerung, eine dramatische Szene, eine Art Todesfanfare. Ariadne tritt, während die Todesfanfare leiser und leiser das Leben aushaucht, auf die Bühne und spricht Friedrich Nietzsches Satz ‚Ich bin dein Labyrinth‘. Aus. Das ist der letzte Satz. Riesenorchesterschlag. Fine.“
—Wolfgang Stähr
Dieser Text erschien erstmals im Programmheft des Pierre Boulez Saals zur Uraufführung von Labyrinth IV am 19. Juni 2019.
I. Zeugung des Minotaurus
Τί με δῆτ᾽, ὦ μελέα μῆτερ, ἒτιχτες.
Oh unglückliche Mutter, warum nur
hast Du mich geboren?
Euripides
I. Conception of the Minotaur
Τί με δῆτ᾽, ὦ μελέα μῆτερ, ἒτιχτες.
O miserable mother, tell me why
did you bear me?
II. Kinderlied für ein Ungeheuer
Durch die Wüste zieht das Kind.
Nur der Faden meiner Hände
Führt es durch das Labyrinth.
Es wird wandeln, wie ich’s sende. –
Durch die Wüste zieht das Kind.
Clemens Brentano, Gedichte
II. Nursery Rhyme for a Monster
Through the desert the child travels.
Only the thread of my hands
Guides it through the labyrinth.
It will wander where I send it.—
Through the desert the child travels.
III. Gang ins Labyrinth
[Kanon]
III. Going into the Labyrinth
[Canon]
IV. Im Labyrinth
Unnennbarer! Verhüllter! Entsetzlicher!
Du höhnisch Auge, das mich aus
Dunklem anblickt!
So liege ich,
Biege mich, winde mich, gequält.
Du drängst mich, drückst mich,
Ha! schon viel zu nahe!
Du hörst mich atmen,
Du behorchst mein Herz,
Was willst du dir erhorchen?
Was willst du dir erfoltern,
Du Folterer!
Friedrich Nietzsche, Dionysos-Dithyramben
IV. In the Labyrinth
Ineffable! Recondite! Sore-frightening!
You mocking eye that me in darkness
watches:
Thus do I lie,
Bend myself, twist myself, convulsed.
You crowd me, pressest—
Ha! now far too closely!
You hearst me breathing,
You overhearst my heart,
What seekst you by your hearkening?
What seekst you by your torturing?
You torturer!
Translation by Thomas Common (1909)
V. Traurig schau ich in die Höh
Traurig schau ich in die Höh,
Wo viel tausend Sterne nicken –
Aber meinen eignen Stern
Kann ich nirgends dort erblicken.
Hat im güldnen Labyrinth
Sich vielleicht verirrt am Himmel,
Wie ich selber mich verirrt
In dem irdischen Getümmel.
Heinrich Heine, Romanzero
V. Sadly Gaze I Up on High
Sadly gaze I up on high,
Where the countless stars are gleaming,
But I nowhere can discern
Where my own bright star is beaming.
Perhaps in heaven’s gold labyrinth
It has got benighted lately,
As I on this bustling earth
Have myself been wandering greatly.
Translation by Edgar Alfred Bowring
VI. Tötung des Minotaurus
Nein!
Komm zurück!
Mit allen deinen Martern!
All meine Tränen laufen
Zu dir den Lauf
Und meine letzte Herzensflamme
Dir glüht sie auf.
Ich bin dein Labyrinth …
Friedrich Nietzsche, Dionysos-Dithyramben
VI. Killing of the Minotaur
No!
Come you back!
With all of your great tortures!
All my hot tears in streamlets trickle
Their course to you!
And all my final hearty fervor
Up-glowth to you!
I am your labyrinth…
Translation by Thomas Common
Daniel Barenboim, Conductor
Sarah Aristidou, Soprano
Boulez Ensemble
Wolfram Brandl, Violin
Yulia Deyneka, Viola
Anne Romeis, Flute
Hartmut Schuldt, Clarinet
Robert Drager, Bassoon / Double Bassoon
Bassam Mussad, Christian Batzdorf, Trumpet
Jurgen Oswald, Trombone
Thomas Guggeis, Piano
Teodoro Anzellotti, Accordion
Martin Barth, Dominic Oelze, Percussion
Lifan Zhu, Violin
Alexander Kovalev, Cello
Christoph Anacker, Double Bass
Video Director
Frederic Delesques
Recording
Camera
Anna Motzeln, Joanna Piechenka, Mathias Sifihn, Nicolai Wolff
Colour Grading
Stephane Andrivot
Teldex Studio Berlin
Audio Producer
Friedemann Engelbrecht
Sound Engineers & Audio Post-Production
Julian Schwenkner, Sebastian Nattkemper
Heliox Films
Production Manager
Emmanuelle Faucilhon
Executive Producer
Pierre-Francois Decoufle
A Production of the Pierre Boulez Saal © 2020 Pierre Boulez Saal. All Rights Reserved
Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT Music, Mainz